Die jüdische Cultusgemeinde Wehen und der historische jüdische Friedhof am Halberg
Skizze der Synagoge in Wehen
sog. "Arisierung"
Eine Information der Stadt Taunusstein, Museum im Wehener Schloss. Zur jüdischen Geschichte Taunussteins ist im Stadtmuseum eine Publikation verfügbar. Am historischen jüdischen Friedhof am Halberg sind Informationstafeln installiert. Der Friedhof wird zum bundesweiten Tag des offenen Denkmals geöffnet. Gegenüber des Standorts der ehemaligen Synagoge wurde zum Gedenken an die jüdischen Opfer nationalsozialistischen Unrechts und rassistisch motivierter Gewalt eine Stele errichtet.
Geleitwort
Die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt ist ein wesentlicher Faktor, der zu dem Gesamtbild beiträgt, dass die „gefühlte“ Lebensqualität ausmacht. Die Erkundung des eigenen Lebensraums, die Kenntnis von der eigenen Geschichte, können solche Identifikationspunkte liefern.
Die Geschichte einer Stadt ist die ihrer Bewohner.
Die Recherche zur jüdischen Geschichte Taunussteins ist ein Aspekt der Dokumentationsarbeit des Stadtmuseums, Museum im Wehener Schloss. Der vorliegende Text bündelt die bisherigen Ergebnisse, ist in den vergangenen Jahren immer wieder auf den aktuellen Stand gebracht worden. Er versucht individuelle Schicksale, die sich hinter der Geschichte verbergen, soweit das geht, nachzuzeichnen und so einen Beitrag zur Erkundung Taunussteins zu leisten.
Sandro Zehner
Bürgermeister
Vorbemerkung
In Hessen bestehen rund 350 jüdische Friedhöfe. Der jüdische Friedhof am Halberg in Taunusstein-Wehen zählt zu den lediglich 19 Anlagen, auf denen Grabsteine aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert nachweisbar sind.
Fast alle jüdischen Friedhöfe wurden während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstört. Die Aufstellung alter Grabmale auf Betonsockeln ist ein Indiz für die Wiederherrichtung der Anlage nach 1945.
Der historische jüdische Friedhof am Halberg
1329 wurde Graf Gerlach I. von Nassau-Weilburg das Recht zugesprochen, Juden in Wehen ansiedeln zu dürfen. Wann nun genau und wie viele Menschen jüdischen Glaubens erstmals in Taunusstein einen festen Wohnort fanden, ist nicht bekannt.
Der jüdische Friedhof in Taunusstein-Wehen kann als „Landfriedhof“ bezeichnet werden. Was die äußere Form der Anlage betrifft, gibt es hier keine Trauerhalle und auch sonst keinen architektonischen Schmuck. Die langgestreckte Anlage ist nach Osten - also in Richtung Jerusalems - ausgerichtet. Hier sind heute noch 55 Grabsteine erhalten.
Die Form des überwiegenden Teils der alten Grabsteine mit der einfach oder doppelt gerundeten Oberkante entspricht der überlieferten Form der Gesetzestafeln, wie sie Moses auf dem Berg Sinai in Empfang genommen hat. Die Inschriften sind teils in hebräischer Sprache und Schrift, teils in deutscher Sprache und lateinischer Schrift ausgeführt. Einige Grabsteine zeigen auf der nach Osten gewandten Seite den hebräischen, auf der nach Westen ausgerichteten Seite den deutschen Text.
Sicher ist, dass über den Zeitraum von Jahrhunderten Begräbnisse von Juden aus dem weiteren Umkreis der jetzigen Stadt Taunusstein hier stattfanden. Für das Recht, die Stätte an diesem Ort unterhalten zu dürfen, hatte die Cultusgemeinde Wehen im Jahr 1749 eine Pacht in Höhe von 15 Gulden an die Nassauische Landesherrschaft zu entrichten. Bis in dieses Jahr wurden hier auch Juden aus Wiesbaden beigesetzt. Erst später erhielt die Wiesbadener Cultusgemeinde das Recht, einen eigenen Friedhof anlegen zu dürfen und wurde damit ebenfalls abgabepflichtig.
Wie viele Grabsteine hier einmal standen, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Es fällt aber auf, dass der äußerste westliche Teil des Friedhofs eine Freifläche ist. Man kann annehmen, dass auch dort einmal Gräber lagen. Die räumliche Anordnung der Grabzeichen lässt nur bedingt Rückschlüsse auf die Chronologie der Bestattungen zu. Die jüngsten Gräber und der mit Abstand älteste Grabstein stehen am östlichen Ende der Anlage beisammen. Der älteste erhaltene Grabstein wurde am 11. Adar im Jahre 5454 (8. März 1694) aufgestellt.
Im östlichen Teil der Friedhofsanlage, am rechten Rand des zentralen Weges, liegt das Grab von Abraham Kahn, geboren am 6. April 1801 und verstorben am 28. April 1881 in Bleidenstadt. Es handelt sich dabei um einen von zwei Grabsteinen am Ort, auf dem neben der Inschrift eine gegenständliche Verzierung angebracht ist. Zwei nach vorn ausgestreckte Handflächen mit abgespreizten Fingern. Dieses Symbol steht für den Kohanim-Segen des Priesters, den er mit beiden Händen –Zeige- und Mittelfinger, Ring- und kleiner Finger aneinander liegend- der Gemeinde erteilt. Die segnenden Hände kennzeichnen die Grabstelle eines Rabbiners oder dessen Nachkommen. Die Grabinschrift im Halbkreis über den Händen beginnt mit der Segnungsformel aus dem Vierten Buch Moses 6,22-27: „Er (Gott) wird dich segnen!“ Die Kürzel neben den Händen sind die Abkürzung für: „Hier ist verborgen.“ Der Text auf dem darunter liegenden Inschriftenfeld beinhaltet neben dem Namen des Verstorbenen eine kurze Charakterisierung seines Wesens und lautet: „Ein Mann, ein gerechter, vollkommener und geradliniger, demütig, wohltätig, der gerechte Abraham Kahn, Sohn des Rabbiners Kahn, der Priester, gestorben in gutem Alter am Donnerstag, 29. Nissan, und begraben am Vorabend des Heiligen Schabbath, 30. dieses (Monats) (5)641 seine Seele sollte im Bund des Lebens gebunden werden.“
Die drei Gräber der Familie Falk aus Breithardt und das Grab von Max Meier aus Holzhausen ü. A. geben einen Hinweis auf den geografischen Einzugsbereich des Friedhofs.
Die kleinen Landfriedhöfe waren einmal durchaus keine Seltenheit. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen waren sie auf den Dörfern zu finden. Mit der Enteignung –„Arisierung“- der Grundstücke und der darauffolgenden Umnutzung der Anlagen während der nationalsozialistischen Herrschaft verschwanden die meisten von ihnen aus den Augen und letztlich auch aus dem Sinn.
Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Wehener Synagoge zerstört. Auf dem Friedhof am Halberg sprechen Anzeichen dafür, dass er ebenfalls verwüstet worden wurde.
Die Stadt Taunusstein ist Eigentümerin des Areals auf dem sich der jüdische Friedhof in Wehen befindet. Durch wenige regulierende Eingriffe soll der Friedhof ganz bewusst nicht „herausgeputzt“ werden. In Übereinstimmung mit der jüdischen Begräbniskultur soll damit der naturnahe Charakter des Ortes unterstrichen und erhalten werden.
Der jüdische Friedhof in Taunusstein-Wehen befindet sich auf dem ansteigenden Gelände unterhalb des Halbergs. Zu erreichen ist er über eine Treppe, die am Neuen Weg (Straße Richtung Orlen) abzweigt. Zur Information vor Ort ist von Seiten des MUSEUMs IM WEHENER SCHLOSS am oberen Ende der Treppe eine dauerhafte Beschilderung eingerichtet worden.
Der jüdische Friedhof ist nicht frei zugänglich. Für das Publikum wird er zum alljährlichen Tag des offenen Denkmals am zweiten Sonntag im September geöffnet. In Übereinstimmung mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hessen ist das Betreten des Friedhofs am Schabbat (Samstag), sowie an jüdischen Feiertagen untersagt.
Die jüdische Cultusgemeinde in Wehen
Die frühen Jahre
1323 erhielt der Weiler Wehen von Kaiser Ludwig dem Bayern die Stadtrechte zugesprochen. Die damit verbundenen Belange, wie Steuer- und Zollerhebung, Gerichtsbarkeit etc., wurden von Graf Gerlach I. zu Nassau-Weilburg wahrgenommen. Wehen entwickelte sich in der folgenden Zeit zu einer mit eigener Infrastruktur ausgestatteten Ansiedlung, in deren Zentrum das Wehener Schloss mit einer Stadtmauer und Marktbezirk ausgebaut wurde.
Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung Wehens beginnt 1329 mit der Zusprache Kaiser Ludwigs an Graf Gerlach I., Juden innerhalb der Stadtgrenzen ansiedeln zu dürfen. Über die Anzahl der jüdischen Bewohner, ihre berufliche Tätigkeit oder Religionsausübung in diesen frühen Jahren ist wegen des Fehlens weiterer schriftlicher Dokumente nichts bekannt. Man kann aber davon ausgehen, dass die jüdische Bevölkerungsgruppe, die traditionell im ländlichen Bereich die Berufszweige Händler und insbesondere Viehhändler ausübte, zum Erfolg des neu eingerichteten Wehener Marktes beitrug.
Die Anlage des jüdischen Friedhofs am Halberg an der Straße nach Orlen dürfte bald erfolgt sein. Aber erst aus dem Jahre 1713 ist der Schutzbrief für Nathan, Jude zu Wehen, ausgestellt von Fürst Georg August, erhalten.
Die Emanzipation
Im Zuge der Französischen Revolution (1789) waren in der 1791 verabschiedeten Verfassung den Juden erweiterte Bürgerrechte zugesprochen worden, was eine Stärkung des Selbstbewusstseins des jüdischen Bürgertums in ganz Europa bewirkte und einen Synagogen-Bauboom entfachte.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befasste sich deshalb auch wiederholt die Nassauische Regierung mit Fragen, die aus den Emanzipationsbestrebungen der jüdischen Bevölkerung resultierten. Am 13. August 1806 wurde von Fürst Friedrich August in Nassau der Leibzoll abgeschafft.
Diese, sonst nur im Viehhandel erhobene, Kopfsteuer hatten vormals Mitglieder der jüdischen Bevölkerungsgruppe bei der Überschreitung von Landes- und sogar Amtsgrenzen zu entrichten. Um damit kein allzu großes Loch in den fürstlichen Haushalt zu reißen, wurde im Gegenzug die weiterhin bestehende Schutzgeldverordnung –„Toleranzgeld“ oder „Judensteuer“- geändert.
Um 1800 wurde die Wehener Synagoge errichtet. Es ist anzunehmen, dass das äußerlich schlichte, zweigeschossige Gebäude mit steilem Satteldach, das sich auf der Höhe der Weiherstraße Nummer 15 befand, lediglich mit der Mindestausstattung versehen war, die zur Durchführung des Gottesdienstes vorgeschrieben ist: Heilige Lade, Thorarolle, -tisch und -schrein, Ewiges Licht, Leuchter und Wasserbecken.
Ob das bescheidene Gotteshaus über ein eigenes Tauchbad, Mikwe, für die rituelle Körperreinigung verfügte, ist nicht bekannt. Im Parkett soll es 24 Männern und auf der Empore 16 Frauen Platz geboten haben.
Zu Beginn der 1840er Jahre sah sich die Wehener Cultusgemeinde mit einem Problem konfrontiert:
Zur Gemeinde gehörten auch die in Bleidenstadt, später die in Hahn und zeitweise auch die in Kemel ansässigen Juden. Aus einem Briefwechsel aus dem Jahr 1841/1842 geht hervor, dass die Bleidenstädter Juden sich von der Wehener Cultusgemeinde separieren wollten.
Dem Wehener Gemeindevorsteher Levi Simon gelang es, die Loslösungstendenzen wieder zu zerstreuen und damit die vorgeschriebene Mindestzahl von 10 Männern, Minjan, für die Durchführung des Gottesdienstes in Wehen sicherzustellen.
Ebenfalls aus dem Jahr 1841 stammt die Verordnung, dass alle Juden feststehende und vererbliche Familiennamen anzunehmen haben.
Der Nationalsozialismus
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 wuchs die organisierte Diskriminierung rasch an: Das Parteiorgan „Stürmer“, herausgegeben von Julius Streicher, nahm dabei eine führende Rolle ein. Das Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung wurde bald durch antisemitische Verordnungen, festgehalten in den „Nürnberger Gesetzen“, dem „Reichsbürgergesetz“, dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehe“ eingeschränkt und die offene Ablehnung fand in großen Teilen der Bevölkerung einen fruchtbaren Boden.
Die rückblickende Beurteilung eines nicht-jüdischen Zeitzeugen, dass das Zusammenleben auch nach 1933 problemlos funktioniert habe, sollte daher mit Skepsis beurteilt werden.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten „Reichs-Pogromnacht“, wurde die Wehener Synagoge in der Weiherstrasse (Höhe Hausnummer 15) von einem auswärtigen, wie es heißt, SA-Trupp geplündert und zerstört. Andere Zeitzeugen berichten, dass die Wehener Synagoge nicht in der Nacht, sondern erst am darauf folgenden Tag zerstört worden sei.
Dagegen ist im Stadtarchiv Taunusstein ein Dokument erhalten, in dem der Wehener Bürgermeister 1949 berichtet, die Synagoge sei erst „im Oktober 1939 vollständig zerstört worden.“ Jedenfalls hatte man die Wehener Synagoge nicht in Brand gesetzt, um die umstehenden Gebäude keiner Gefahr auszusetzen, sondern eingerissen.
Die Thorarollen und liturgische Gegenstände sind bereits vor der Plünderung der Synagoge von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde an einem unbekannten Ort in Wehen vergraben worden. Bereits seit 1933 soll in der kleinen Wehener Synagoge kein Gottesdienst mehr abgehalten worden sein.
Im Zuge der Zerstörung der Synagoge drang man in das nebenan gelegene Wohnhaus der Familie Nassauer ein und zerstörte die Inneneinrichtung. Die Familienmitglieder Rosa, Josephine und Jakob Nassauer hatten rechtzeitig fliehen können und verbargen sich zunächst bis zum Einbruch der Dunkelheit am Waldrand. In der Nacht fanden sie in Hahn Obdach. Zu ihrem Haus zurückgekehrt erfuhren sie am folgenden Tag, dass Siegfried Nassauer, wie alle anderen jüdischen Mitbürger, deren man habhaft werden konnte, am Vortag verhaftet worden war.
Es hieß, sie sollten in das Konzentrationslager Dachau deportiert werden, kehrten allerdings noch einmal nach einigen Tagen an ihre Wohnorte zurück. Siegfried Nassauer war auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstätte in Wiesbaden von dem anrückenden SA-Trupp erkannt, vom Fahrrad gestoßen und misshandelt worden. Karl Simon hatte man unter Trommelwirbel und mit einem Joch auf den Schultern durch Wehen geführt. Dies geschah unter dem Vorwand, er habe ein „arisches“ Dienstmädchen belästigt.
Zweiter Weltkrieg und Holocaust
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs, 1939, wurden die die jüdische Bevölkerung betreffenden Verordnungen weiter und einschneidend verschärft: Juden wurde der Zugang zu Luftschutzräumen untersagt, sie wurden von Zuteilungen per Lebensmittelkarte ausgeschlossen. Für ihre Einkäufe wurden den Familien bestimmte Geschäfte zugewiesen und auf ein Minimum reduzierte Einkaufszeiten vorgeschrieben. Landwirtschaftlicher Grundbesitz wurde seit Ende 1940 „zwangsarisiert“. Die Kennzeichnung von Kleidung und Wohnung mit dem „Judenstern“ war Vorschrift. Aus der „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“ vom 1. September 1941: „Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen. (…) Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest aufgenäht zu tragen.“
Frauen hatten den zusätzlichen Vornamen Sara und Männer Israel anzunehmen. Alle jüdischen Mitbürger hatten sich zweimal wöchentlich auf dem örtlichen Polizeirevier, beziehungsweise dem Bürgermeisteramt zu melden. Für das Verlassen der Gemeindegrenzen war eine polizeiliche Erlaubnis einzuholen. Jüdischen Ärzten wurde es verboten, „arische“ Patienten zu behandeln und Patienten jüdischen Glaubens wurde es untersagt, nicht-jüdische Ärzte aufzusuchen. Da es im Gebiet der heutigen Stadt Taunusstein keine entsprechenden Arztpraxen gab, mussten die Kranken für ihre Behandlung den Weg nach Wiesbaden in Kauf nehmen und entsprechende Erlaubnisscheine beantragen.
Per Erlass war die Auswanderungsfrist aller deutschen Juden auf den 1. Juni 1940 festgelegt worden. Der Auswanderungsvorgang stand unter ständiger Kontrolle der Geheimen Staatspolizei. Immobilien und sonstiges Eigentum der „Auswanderungswilligen“ mussten unter erheblichem Wertverlust zum Verkauf gebracht werden. Im Falle der Auswanderung wurde die „Reichsfluchtsteuer“ erhoben. Außerdem war für die Einreise ins Aufnahmeland eine Bürgschaft vorzulegen.
Die Familie des Metzgers Sally Kahn aus Bleidenstadt –Rosa, Albert, Margarethe - konnte 1935 nach Argentinien auswandern.
Die Familie des Viehhändlers Max Otto Nassauer aus Wehen –Selma, Alex- wanderte 1936 bzw. 1938 in die USA aus.
Das Ehepaar Isidor und Lina Nassauer und die Familie des Händlers Ludwig Levi – Lilli, Ferdinand- aus Hahn wurde deportiert und in Konzentrationslagern ermordet.
Die Familie Nassauer –Siegfried, Rosa, Jakob, Josephine- aus Wehen hatte sich bereiterklärt bis zum 31.03.1939 nach Ecuador auszuwandern. Der Auswanderungstermin wurde jedoch mit Schreiben vom 04. April 1939 ausgesetzt, da Siegfried Nassauer geltend machen konnte, als „Frontkämpfer“ am Ersten Weltkrieg teilgenommen zu haben.
In der folgenden Zeit muss die Familie ihre Auswanderungspläne weiter verfolgt haben, stieß aber wohl beim Verkauf ihres hiesigen Eigentums auf Schwierigkeiten. Sie wurden 1942 in die Konzentrationslager Majdanek bzw. Sobibor deportiert.
Das Kleinkind Fritz (später Fred A.) Kahn, das bei seinem Onkel Siegfried und seiner Tante Rosa untergebracht war, wanderte 1938 nach Belgien, 1952 nach den USA aus.
Josephine Nassauer verzog am 11. Juni 1942 nach Wiesbaden. Dort soll sie sich an eine Anlaufstelle gewendet haben, die versuchte, jüdische Mitbürger dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Dennoch wurde sie verhaftet und 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie verstarb.
Die Familie des Viehhändlers Alfred Nassauer -Rosa, Ruth- aus Wehen verzog 1937/38 nach Hannoversch Münden und wurde von dort aus deportiert.
Moritz Simon war 1939 in Wehen verstorben. Eleonore Simon konnte 1937/38 in die USA auswandern. Karl, Gerda und Lina Simon wurden verhaftet und im KZ ermordet.
Clothilde Schrank aus Wehen entzog sich dem Zugriff der Gestapo, indem sie sich selbst das Leben nahm.
Die amtliche „Liste der für die Juden ausgestellten polizeilichen Erlaubnisscheine“ weist aus, dass spätestens ab dem 30. Juni 1942 kein Mitglied der ehemaligen Cultusgemeinde Wehen mehr an seinem angestammten Wohnsitz lebte.
Die ersten Nachkriegsjahre
Die amerikanische Militärregierung hatte 1946 den Staat „Großhessen“ proklamiert. Das „Ministerium für Wiederaufbau und politische Befreiung“ führte die Entnazifizierungsmaßnahmen durch.
Mit der Rückführung und Schadensregulierung „arisierten“ jüdischen Eigentums war seit dem 18. August 1948 die „Jewish Restitution Successor Organization“ (JRSO: Jüdische-Rückerstattungs-Nachfolgeorganisation) betraut. Wie aus Dokumenten des Taunussteiner Stadtarchivs hervorgeht, nahm die JRSO 1949 Kontakt zum Wehener Bürgermeisteramt auf.
Es ging um die Klärung der Ereignisse und Schadenserfassung um die Pogromnacht vom 9./10. November 1938. Der Bürgermeister reagierte erst ablehnend: „Diese Angelegenheit betrifft keine Gemeindeinteressen (...).“ Wenig später ergänzte er jedoch, die Wehener Synagoge sei vollständig zerstört worden, die Täter seien unbekannt. Lediglich ein namentlich bekannter SA-Mann sei von der Staatsanwaltschaft Wiesbaden mit Gefängnis bestraft worden. Ansonsten befände sich der jüdische Friedhof in gutem Zustand: „Wohl waren einige Grabsteine umgelegt, aber die Gemeinde hat die Angelegenheit wieder in Ordnung gebracht.“
Zur Klärung privater Eigentumsansprüche wurden auch Treuhänder eingesetzt.
Späte Nachricht
Lange war man in Taunusstein davon ausgegangen, dass der letzte Überlebende der ehemaligen jüdischen Cultusgemeinde Wehen, Alex Nassauer, 1988 in New York verstorben war. Im Mai 2007 jedoch nahm der amerikanische Staatsbürger Fred Kahn mit der Stadt Taunusstein Kontakt auf. Fred (eigentlich Fritz) Kahn war am 19. Dezember 1932 in Wiesbaden geboren worden. Seine Eltern wanderten bereits 1933 nach Belgien aus.
Den Sohn gaben sie zu Onkel und Tante, dem kinderlosen Ehepaar Siegfried und Rosa Nassauer, nach Wehen in Pflege. Die Eltern planten, sich in Belgien eine neue Existenz aufzubauen und dann ihren Sohn nachkommen zu lassen. Fred Kahn konnte Anfang Oktober 1938 nach Belgien ausreisen. Im folgenden Artikel (gekürztes Zitat aus: Alumni, People & Events, Fred Kahn SAIS ´63 / School of Advanced International Studies) beschreibt Fred Kahn seine Kindheitserinnerungen:
„Dramatische Flucht in ein neues Leben. Wenn sich Fred Kahn an seine Kindheit erinnert –aufgewachsen in einem jüdischen Haushalt in Nazi-Deutschland-, kommen ihm klare Bilder von schlittenfahrenden Nachbarkindern und zu Trompetenklängen aus dem nahen Wehener Schloss in den Sinn. Aber keine Erinnerung ist lebhafter, als der Abend des 1. Oktober 1938, an dem er die Stadt Wehen verließ und damit das Heim von Tante und Onkel –den einzigen Eltern, die er jemals kannte.
Kahn schreibt all seinen Lebenserfolg seiner dramatischen Flucht mit sechs Jahren aus Nazi-Deutschland zu. Er lebte bei seiner Tante und seinem Onkel, seit seine leiblichen Eltern nach Belgien geflohen waren. Seine Eltern planten, ihn zu sich zu holen, wenn sie ein Auskommen hätten. Aber in der Nacht des 1. Oktober 1938 wurde es dringend, als Kahn von seinem Onkel Siegfried geweckt wurde.
(…) Mein Onkel sagte mir, ich sei dabei, auf eine große Reise zu gehen. Siegfried brachte ihn zu der deutschen Christin Maria in Aachen, die ihn zu der deutsch-belgischen Grenze begleiten würde. Aber zuerst nahm Siegfried Maria beiseite und gab ihr seine goldene Taschenuhr, seinen wertvollsten Besitz. Er gab sie ihr unter der Bedingung, dass, sollte er selbst nicht überleben, sie die Uhr Fred aushändigen solle.
Maria fuhr mit dem Jungen im Zug an die Grenze – ins Niemandsland. „Aber als ich ankam, wollte mich niemand hereinlassen, da ich keine Papiere hatte.“ Während die Offiziere telefonierten, konnte Kahn hören, wie seine leiblichen Eltern von der belgischen Seite der Grenze, nach ihm riefen. „Mein Vater schrie: Das ist mein Sohn!“ Kahn antwortete, obwohl er nicht wusste, wer der Rufer war.
Vier Jahre später, 1942, wurden Siegfried und seine Frau Rosa in Konzentrationslager deportiert. Rosa schrieb in der Nacht, bevor sie verschwand, dem Jungen eine Abschiedspostkarte. Kahn und seine Eltern benutzen im besetzten Belgien die alten Ausweispapiere einer katholischen Familie. Sie bewahrten ihre Habseligkeiten bei Freunden auf und zogen alle sechs Monate um, um zu vermeiden, als Juden erkannt und registriert zu werden.“
1944 zogen die Deutschen aus Belgien ab. Fred Kahn wanderte 1951 in die USA aus.